„Spree“-Ausgaben 2010
Ich betreute „Spree“ als verantwortlicher Redakteur, leitete jeweils die Produktion und gestaltete gemeinsam mit Stephan Lahl das Layout. Christiane Dohnt unterstützte bei der Redaktionsleitung.
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#1/2010: Weiße Weste
Weiße Westen sind anfällig. Ein Dreckspritzer aus der Pfütze im Straßengraben, eine unachtsam verschüttete Döner-Sauce oder ein kleiner Rotweinfleck: Sie genügen, um einer weißen Weste ihr reines Aussehen zu nehmen. Auf Weiß fällt der kleinste Fleck doppelt so stark auf.
Auch die moralische Unschuld ist schnell dahin. Hat man einmal einen Stempel auf die Stirn gedrückt bekommen, sitzt das Kainsmal bombenfest. Wenn dann Freunde die Straßenseite wechseln, hat man die Quittung erhalten.
Im virtuellen Netz ist die unbefleckte Weste geradezu verpönt. Wer dort mitspielen will, muss private Details offenbaren. Geklickt wird, wer sich auf der gestrigen Party daneben benommen hat. Am besten mit Pics und Comments. Das Internet hat uns die große Möglichkeit geschenkt, uns selbst mit Schmutz zu bewerfen. Mit jedem weiteren Upload oder Pinnwand-Eintrag suhlt man sich in der Pfütze. Die Flecken sind auch für potenzielle Arbeitgeber sichtbar. Dass diese sich für die Spuren unserer Freizeitgestaltung interessieren, ist moralisch genauso verwerflich.
Wie man es mit der weißen Weste auch hält, ob real oder virtuell, ob privat oder als Unternehmen, eines steht fest: Dreckig ist sie schnell. Sie wieder sauber zu bekommen, dauert lang.
#2/2010: Kurswechsel
Wechselkurse bestimmen die Nachrichten. Die Wirtschaft kreuzt durch schwierige Gewässer. Von allen Seiten werden Kurswechsel gefordert. Doch es fehlt der starke Kapitän, der entscheiden kann, welcher Kurs denn nun eingeschlagen wird.
Im Alltag wirken sich die globalen Probleme immer verspätet aus. Wir haben alle mit unseren eigenen Sorgen und Nöten genug zu tun. Der Blick für die großen Zusammenhänge leidet unter dem Alltag. Ständig müssen wir kontrollieren, ob ein eingeschlagener Kurs noch stimmt, in welchen Gewässern wir unterwegs sind, ob wir unsere Fahrt mit den richtigen Begleitern angetreten haben. Doch die wichtigste Frage wird dabei oft vergessen: Haben wir uns auf unserer Fahrt möglicherweise verändert, und ist das ursprünglich anvisierte Ziel daher überhaupt noch erstrebenswert?
Der Frühling ist die Zeit des Putzens, der äußeren und inneren Reinigung. Gibt es eine bessere Zeit, sich über seinen aktuellen Zustand zu vergewissern und nötige Kurskorrekturen vorzunehmen?
Wir denken nicht.
#3/2010: Unisex für alle
„Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen“, wusste schon Loriot. Dass Männer und Frauen aber gern zusammenpassen würden, lehrt die Alltagserfahrung. Aus dem Alltag wissen wir ebenfalls, dass es mehr als nur Männer mit Interesse an Frauen bzw. Frauen mit Interesse an Männern gibt.
Die Palette der sexuellen Interessenlagen und Identitäten ist so vielfältig, dass man schnell den Überblick verliert – oder in Gefilde gerät, von denen man keine Details erfahren möchte. Aber gehört es im Sinne einer tatsächlichen Gleichberechtigung nicht dazu, andere Interessen ernstzunehmen und unabhängig von diesen Entscheidungen zu treffen?
Seien wir ehrlich, im Alltag nehmen wir andere Menschen auch und vor allem über ihr Geschlecht wahr. Peinlich und sexistisch wird es erst dann, wenn wir über die erste Wahrnehmung nicht hinausgelangen – wenn wir über diese erste Wahrnehmung nicht hinausgelangen wollen. Unsere Unterschiede lassen uns zu Individuen werden, die Vision einer geschlechtslosen – unisexen – Welt erschreckt eher. Und die andere Bedeutung von Unisex kann ihren eigenen Reiz entfalten.
#4/2010: Auszeit
Die Sommerzeit ist nicht die Zeit der großen intellektuellen Regungen. Sie begann mit der Fußball-WM und geht mit der Sommerpause von Politik und Kultur, Sauregurkenzeit oder Sommerloch genannt, weiter. Studenten wer- den für ihren Anspruch auf Urlaub gern angefahren. Wovon denn Auszeit nehmen? Dabei bedeutet es nichts anderes, als die Zeit anzuhalten, den normalen Kreislauf zu unterbrechen, laut „Stopp!“ zu rufen und tief durchzuatmen. Gönnt man sich die Pause nicht hin und wieder, zieht die Zeit noch viel rasanter vorbei und letztlich folgt das K.O.
Die Semesterferien sollten also für eingehendes Innehalten genutzt werden. Ob am Strandbad die Seele baumeln zu lassen oder sie auf dem Festival rauszutanzen – die Auszeit vom Normalen ist gesund. Man sammelt Erfahrungen abseits des Hörsaals und beschäftigt sich mit ganz praktischen Dingen wie Bierdeckelweitwurf unter eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit.
Mit frischem Kopf kann man im Oktober in die nächste Lernphase starten, konzentriert im Kreislauf schwimmen, um Ende des Jahres wieder auszubrechen. So haben wir die Hoffnung, dass die Politiker nach der Pause bessere Konzepte und die Theater ein innovatives Programm auf der Bühne haben – und wir Studenten versuchen wieder, die Welt zu verstehen und besser zu machen.
#5/2010: Jetzt erst recht
„Tschacka“, dröhnt es in den Ohren. „Wir schaffen das!“ „Jetzt erst recht!“ Trotzig und euphorisiert blicken die Gescheiterten, die Niedergeschlagenen und die Verzweifelten in die Zukunft. In dem einen Wort „Tschacka“ ist die gesamte Energie gebündelt. Jetzt sind sie bereit, zu beweisen, dass ihr Scheitern nicht in ihren Genen vorgesehen ist, dass ihre Niederlage nicht vorherbestimmt ist, dass sie alles schaffen können.
Ein ähnliches Gefühl vermittelt jeder Semesteranfang. Wer im Sommersemester gescheitert ist, kann nun beweisen, dass er doch zu guten Leistungen fähig ist. Wer frisch in den Lebensabschnitt „Studium“ startet, kann nun beweisen, dass er tatsächlich selbstständig leben, seinen Alltag organisieren und klugen Gedanken folgen kann.
Selbst wenn alle Welt denkt, dass du nichts auf die Reihe bekommst und die Erwartungen sowieso gering sind, ist nun der richtige Moment für „Jetzt erst recht“. Überrasche alle, sei trotzig und glaube an dich! Wenn du zu den Erstsemestern gehörst, lass dich von den Irrungen und Wirrungen der ersten Wochen nicht unterkriegen. Mit unserem ABC für Studienanfänger bist du auf der sicheren Seite.
Auch wenn jedem Neuanfang die Gefahr des Scheiterns innewohnt, verzage nicht. Denn wie schon Theodor Heuss wusste: Es ist keine Schande hinzufallen, aber es ist eine Schande, einfach liegenzubleiben.
#6/2010: „Wunschzettel“
Kurz vor dem Jahreswechsel sollte es uns allen doch mal vergönnt sein: ordentlich durchpusten und sich Zeit für Dinge nehmen, die man sonst liegen lässt. Denn was haben diese Tage nicht alles zu bieten? Von der dicken Weihnachtsgans über nervig-traute Verwandtschaftsbesuche in den Specktagen zum wohl schönsten und längsten Kater des Jahres nach Silvester.
Bei vielen von uns hat sich diese magische Zeit aber vor allem aufgrund von Kindheitserinnerungen unwiderruflich ins Gedächtnis gebrannt: aufgeregtes Wunschzettelschreiben an den Weihnachtsmann, heimliches Geschenkesuchen im Kleiderschrank der Eltern, nachdem es den Weihnachtsmann nicht mehr gab, und die Enttäuschung, diesen einen wichtigen Wunsch doch nicht erfüllt bekommen zu haben.
Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass nicht alles wahr wird, was wir uns wünschen. Wir machen trotzdem weiter. Aus dem Alter, in dem wir Wünsche nur aufschreiben mussten und sie dann hübsch verpackt unterm Baum liegen sahen, sind wir zwar heraus. Aber gerade durch das eigenhändige Verwirklichen unserer Träume erleben wir Höhen und Tiefen, werden reifer und formen unsere Persönlichkeit.
Somit gilt auch für das nächste Jahr: „Wünscht euch was!“